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Pressemitteilungen des Oberverwaltungsgerichts

Pressemitteilungen des Oberverwaltungsgerichts

Normenkontrollanträge gegen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus im Jahr 2020 teilweise erfolgreich

30.06.2022, Magdeburg – 7/2022

  • Oberverwaltungsgericht

In zwei Urteilen vom 30. Juni 2022 hat sich der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts – nach zahlreichen Beschlüssen im vorläufigen Rechtsschutz – erstmals in Hauptsacheverfahren zur Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus im Jahr 2020 geäußert. Das eine Normenkontrollverfahren (Az.: 3 K 55/20) betrifft die grundsätzliche Untersagung der Öffnung von Ladengeschäften jeder Art über 800 Quadratmeter Verkaufsfläche, das andere Normenkontrollverfahren (Az.: 3 K 72/20) betrifft die Schließung von Gaststätten für den Publikumsverkehr. Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Maßnahmen war jeweils die – mittlerweile außer Kraft getretene – Vierte Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Sachsen-Anhalt (Vierte SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung - 4. SARS-CoV-2-EindV, GVBl. LSA S. 190), die am 20. April 2020 in Kraft trat, in der Fassung durch die Verordnung zur Änderung der Vierten Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Sachsen-Anhalt vom 21. April 2020 (GVBl. LSA S. 205) – im Folgenden: 4. SARS-CoV-2-EindV.

1. Die Antragstellerin im Verfahren 3 K 55/20 betreibt im gesamten Bundesgebiet, u. a. im Land Sachsen-Anhalt, eine Vielzahl von Warenhäusern mit branchenübergreifendem Sortiment, das neben allgemein nachgefragten Konsumgütern insbesondere auch Lebensmittel sowie Hygiene- und Drogerieartikel für den täglichen Bedarf umfasst. Alle Warenhäuser hätten eine Verkaufsfläche von deutlich mehr als 800 m², im Durchschnitt ca. 12.500 m² je Warenhaus. Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, dass § 7 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 2a der 4. SARS-CoV-2-EindV unwirksam war. Diese Regelungen lauteten wie folgt:

 

„§ 7 Ladengeschäfte, Dienstleistungen der Körperpflege

(1) Untersagt wird die Öffnung von Ladengeschäften jeder Art über 800 Quadratmeter Verkaufsfläche. Ladengeschäfte jeder Art bis zu 800 Quadratmetern Verkaufsfläche dürfen nur für den Publikumsverkehr geöffnet werden, wenn die Hygieneregeln und Zugangsbegrenzungen nach Absatz 5 eingehalten werden. In den Ladengeschäften ist eine textile Barriere im Sinne eines Mund-Nasen-Schutzes nach § 3 Abs. 2 zu tragen.

 

 

(2) Von der Größenbeschränkung nach Absatz 1 ausgenommen sind der Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Banken und Sparkassen, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Poststellen, Tierbedarf, Fahrradläden, Bau- und Gartenmärkte, Großhandel, Tankstellen, Kfz-Händler und -Teileverkaufsstellen, Buchhandel, Zeitungs- und Zeitschriftenhandel, Wochenmärkte, der Betrieb von Lebensmittelhandel im Reisegewerbe, Reinigungen, Waschsalons, der Online-Handel und Abhol- und Lieferdienste.

(2a) Für Ladengeschäfte mit Mischsortiment nach § 5 Abs. 4 der Dritten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung, deren Öffnung im Geltungszeitraum der Dritten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung als zulässig angesehen wurde, weil der Anteil des nach § 5 Abs. 2 der Dritten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung zugelassenen Sortiments einen nicht nur unerheblichen Anteil am Gesamtsortiment umfasst, ist auch im Geltungszeitraum dieser Verordnung weiterhin die Öffnung unabhängig von der Einhaltung der Größenbegrenzung von 800 Quadratmetern nach Absatz 1 zu gestatten. Gleiches gilt für Geschäfte, denen eine Genehmigung nach § 5 Abs. 5 der Dritten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung erteilt wurde. Die Verpflichtung zur Einhaltung der Auflagen nach Absatz 5 bleibt unberührt.“

 

Der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat dem Antrag stattgegeben und festgestellt, dass die streitgegenständlichen Verordnungsregelungen unwirksam waren. Die Regelungen waren inhaltlich zu unbestimmt. Zwar haben die Regelungen in § 7 Abs. 1 und 2 der 4. SARS-CoV-2-EindV für sich betrachtet unmissverständlich deutlich gemacht, welche Ladengeschäfte unter welchen Bedingungen für den Publikumsverkehr geöffnet werden dürfen (Ladengeschäfte jeder Art mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 m², größere Ladengeschäfte nur, wenn sie in Abs. 2 der Regelung aufgezählt waren). Ladengeschäfte mit einer Verkaufsfläche über 800 m² waren danach unmissverständlich geschlossen zu halten. Die konkrete inhaltliche Reichweite der Regelung in § 7 Abs. 1 der 4. SARS-CoV-2-EindV ist indes in der Zusammenschau nicht nur mit Absatz 2, sondern auch mit Absatz 2a zu bestimmen. Dort ist wie in Abs. 2 eine weitere Ausnahme von dem in § 7 Abs. 1 der 4. SARS-CoV-2-EindV geregelten grundsätzlichen Schließungsgebot für Ladengeschäfte jeder Art über 800 qm Verkaufsfläche vorgesehen. Nach § 7 Abs. 2a der 4. SARS-CoV-2-EindV war Ladengeschäften mit Mischsortiment nach § 5 Abs. 4 der Dritten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung, deren Öffnung im Geltungszeitraum der Dritten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung als zulässig angesehen wurde, weil der Anteil des nach § 5 Abs. 2 der Dritten SARSCoV-2-Eindämmungsverordnung zugelassenen (privilegierten) Sortiments einen nicht nur unerheblichen Anteil am Gesamtsortiment umfasst, weiterhin die Öffnung unabhängig von der Einhaltung der Größenbegrenzung von 800 Quadratmetern nach Absatz 1 zu gestatten. Wann von einem „nicht nur unerheblichen Anteil am Gesamtsortiment“ zu sprechen ist, blieb hingegen offen. Für den durchschnittlichen (objektiven) Normadressaten blieb unklar, wann von einem „nicht nur unerheblichen Anteil“ des privilegierten Warensortiments am Gesamtsortiment auszugehen ist, mit der Folge, dass die Öffnung auch eines Ladengeschäfts mit Mischsortiment und einer Verkaufsfläche von über 800 m² abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 1 der 4. SARS-CoV-2-EindV ausnahmsweise doch gestattet war. Der Wortlaut der Regelung des § 7 Abs. 2 der 4. SARS-CoV-2-EindV lässt insoweit keine hinreichend bestimmbare Interpretation dahingehend zu, welche (größeren) Ladengeschäfte des nichtprivilegierten Einzelhandels der Verordnungsgeber von der grundsätzlichen Schließungsanordnung ausnehmen wollte. Auch die amtliche Begründung zur 4. SARS-CoV-2-EindV gab hierzu keinen voraussehbaren Aufschluss. Auf die übrigen Einwände der Antragstellerin gegen die streitgegenständlichen Regelungen kam es damit nicht mehr an.

2. Ohne Erfolg blieb hingegen der Antrag einer Gaststättenbetreiberin auf Feststellung der Unwirksamkeit der Schließungsanordnung von Gaststätten für den Publikumsverkehr nach § 6 Abs. 1 der 4. SARS-CoV-2-EindV (Az. 3 K 72/20). Die Regelung lautete wie folgt:

 

„§ 6 Gaststätten

(1) Gaststätten im Sinne des Gaststättengesetzes des Landes Sachsen-Anhalt vom 7. August 2014 (GVBl. LSA S. 386, 443), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Dezember 2016 (GVBl. LSA S. 360), sind für den Publikumsverkehr zu schließen.“

 

Nach Auffassung des 3. Senats des Oberverwaltungsgerichts ist die Regelung weder formell noch materiell zu beanstanden. Insbesondere war die Maßnahme geeignet, die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zu verhindern und damit den Erhalt der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und insbesondere der Krankenhäuser zu gewährleisten. Insoweit war die Regelung auch erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne. Zwar musste die Antragstellerin neben einer Vielzahl anderer Gastronomiebetriebe einen empfindlichen Eingriff in ihre Berufsausübung und massive Einkommenseinbußen mit der Gefahr existentieller Folgen hinnehmen. Es wurde jedoch durch eine Reihe von flankierenden staatlichen Maßnahmen versucht, diese Eingriffe und Folgen aufzufangen, wenn möglich zu vermeiden bzw. zu kompensieren. Das private, vorwiegend wirtschaftliche Interesse der Betroffenen einschließlich der Antragstellerin bleibt hinter dem öffentlichen Interesse an Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Bevölkerung zurück.

 

Beide Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

OVG Sachsen-Anhalt, Urteile vom 30. November 2022 – 3 K 55/20, 3 K 72/20

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